Fotos: Thomas Puschmann

Gieszer 16 Leipzig

Die „Gieszer“ im Leipziger Westen ist ein selbstverwaltetes „Zentrum zur Förderung emanzipatorischer Gesellschaftskritik und Lebensart“. Sie zeigt, was alles entstehen kann, wenn „Do it yourself“ und antikapitalistische Grundhaltung als Organisationsprinzipien ernst genommen werden. Metallwerkstatt und Umsonstladen, Punkkonzert und vieles mehr finden sich in diesem ehemaligen Industriegelände.

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Projekt

Selbstverwaltetes Kultur- und Wohnprojekt, soziales Zentrum, Schwerpunkt alternative Szene;
unter anderem:

  • Konzert/Veranstaltungsräume (z. Z. im Bau)
  • Umsonstladen
  • Bandprobenräume
  • Werkstätten
  • Sporträume

Gebäudetyp/Nutzflächen

Ehemaliges Industriegebäude der Gründerzeit, verschiedene ein- bis dreistöckige Backstein-/Klinkerbauten um einen langgezogenen Innenhof; teilweise Denkmalschutz.

Geländegröße: 2.835 qm
Nutzfläche: 4.400 qm
Wohnfläche: 750 qm
teilöffentliche Projektfläche: 800 qm
öffentliche Nutzfläche: 2.900 qm
Umsonstladen: 100 qm
Veranstaltungsfläche: 290 qm

Projektstatus

Verstetigungsphase

Das Besondere – Erfolgsbausteine

Der entspannte Umgang mit dem Gelände wurde durch den niedrigschwelligen Zugang (Nutzungsvertrag, der de facto 10 Jahre lief) zum Gebäude ermöglicht. Über diese Zeit konnte sich die ganz eigene Kultur der Selbstorganisation entwickeln. Wichtig war zugleich, dass die Gruppe danach, trotz nichtkapitalistischer Grundsätze, den Kauf des Gebäudes wagte.

Einzigartig ist wohl das riesige Gelände, dessen Bauzustand von „teilsaniert“ bis „Baustelle“ reicht. Die Vielfalt der Projekte wird durch die Vielfalt der Gebäude (auch mit unterschiedlichen Zugängen) erleichtert.

Die „Gieszer“ hat eine enorme Projektvielfalt, die auf dem einfachen Grundkonsens „emanzipatorischer Gesellschaftskritik und -Lebensart“ beruht. Wie dieser im Detail ausgefüllt wird, obliegt im Alltag den NutzerInnen selbst. So entstand eine Mischung von Angeboten, die nur einer kleinen Szene zugänglich sind und Angeboten, die von ganz verschiedenen Bevölkerungsgruppen angenommen werden.

Die Kombination von Autonomie und Offenheit ist wichtig: Nach außen hin hat sich die „Gieszer“ oft von „offiziellen“ Strukturen abgegrenzt, etwa indem sie Fördermittel ablehnte oder auch indem sie jede Form „professioneller“ Öffentlichkeitsarbeit einfach verweigert.
Gleichzeitig stehen die Strukturen allen Interessierten offen. In wichtigen Fragen entscheidet das Plenum, das allen NutzerInnen gleichermaßen offen steht. Die „Gieszer“ lehnt Hierarchien ab; notwendige Positionen wie Vereinsvorstand werden als Fremdkörper empfunden.

Die „Gieszer“ wird komplett ehrenamtlich betrieben und war trotzdem oder gerade deshalb bisher finanziell immer gut im Plus.

Chronologie

Am Anfang


Am Anfang stand die Idee einer jugendlichen Gruppe Ende der 90er Jahre im Leerstand ein Kulturzentrum zu schaffen. Eine künstlerische Hausbesetzung und andere theatralische Aktionen (u.a. eine „Häuserhochzeit“) schafften den Rahmen für Verhandlungen um ein städtisches Gebäude.
1999 eröffnet die „Gieszer“, zunächst mit einjährigem Nutzungsvertrag.
Der Nutzungsvertrag wurde von beiden Seiten stillschweigend verlängert, bzw. wurde wohl einfach eine Verlängerung vergessen. Über die Jahre entwickelte sich eine Vielfalt an Projekten, Veranstaltungen, Werkstätten. Das Gelände wird je nach Prioritäten der jeweils Aktiven ausgebaut und umgenutzt.
2005 eröffnet der Umsonstladen.

Aufbau


2009 markiert ein wichtiges Jahr: beim Versuch, einen Wasseranschluss zu bekommen, fällt einigen Aktiven auf, dass der Nutzungsvertrag seit Jahren ausgelaufen war. Die Gieszer beginnt Kaufverhandlungen, um ausbauen zu können. Zeitgleich untersagt das Ordnungsamt zahlreichen halblegalen Veranstaltungsräumen im Stadtviertel die Nutzung. So kam mit dem Kauf der Veranstaltungsstopp auch für die Gieszer, u.a. wegen fehlendem Brand- und Schallschutz. Wohnprojekt und Werkstätten liefen weiter.

Verstetigung


2009 bis 2016 konzentrierte sich das Projekt auf die übrigen Räume. Der Ausbau der Veranstaltungsräume, um hier auch wieder offiziell Konzerte organisieren zu können, lief niedrigschwellig.

Auf lange Sicht


Auch weiterhin wird der Erhalt und Ausbau der Gebäude entlang der Nutzerinteressen im Vordergrund stehen. Die Gieszer wird nie ganz fertig sein.

Finanzierung

Grundsätzlich finanziert sich die „Gieszer“ selbst: Alle die hier mitmachen, tragen dazu bei, die Kosten zu stemmen. Feste Nutzungsentgelte gibt es nicht, dafür Spenden.

Die Teilbereiche finanzieren ihre Ausstattung gemeinsam selbst; als Grundkosten fallen im Wesentlichen die Betriebskosten an.

Die „Gieszer“ hat (für ein Do it yourself-Projekt dieser Größenordnung ungewöhnlich) nie ernsthaft Geldprobleme gehabt. Den Kaufpreis in Höhe von 57.000 Euro bezahlte die Gruppe bar mit den Überschüssen der Veranstaltungen der Vorjahre. Fördermittel werden auch aus Sorge vor Abhängigkeit abgelehnt. So weigerte sich die „Gieszer“ sich zum Vorzeigeprojekt der Weltausstellung „Expo 2000“ machen zu lassen, aus Sorge, hier vereinnahmt zu werden.
Für einzelne Projekte wurden aber Fördermittel beantragt: So wurde die Installation des stählernen „Schiffbugs“ 2001 mit EU-Fördermittel finanziert.

Organisationsform

Träger des gesamten Projekts und Eigentümer des Geländes ist der gemeinnützige „Verein für Stadtteilförderung, Wohn- und Kultur e. V.“ Die Rechtsform wurde vor allem gewählt, weil sie zum ideellen Zweck passte und den Aktiven vertraut war. Ideal der „Gieszer“ ist es, dass alle NutzerInnen des Geländes sich als Teil des Vereins verstehen. Eine Unterstrukturierung mit weiteren Untervereinen gibt es nicht.

Im Alltag ist es vor allem das Nutzerplenum, wo die Aktivitäten auf dem Gelände koordiniert werden sowie eine Vielzahl einzelner Plena für die verschiedenen Bereiche. Die Plena sind es, die im Alltagsbewusstsein der „Gieszer“ eine Rolle spielen, nicht der Verein.

Vorteil dieser Konstruktion ist die einfache Handhabung der Projektvielfalt – alles gehört rechtlich zum Verein. Es hat keine umständlichen bürokratischen Unterstrukturen.

Nachteil: Mehrfach verlor der Verein kurzzeitig die Gemeinnützigkeit, weil in der Gemengelage selbstorganisierter Projekte der ehrenamtliche Vereinsvorstand bestimmte Aufgaben aus dem Blick verlor. Zudem gibt es Aufgaben, die niemand gern übernimmt – Ämterkontakte allgemein, Steuererklärung etc.

Kommunikation

Die „Gieszer“ betreibt keine Öffentlichkeitsarbeit im üblichen Sinne: Die Website ist seit Jahren veraltet. Das macht aber im Alltag der „Gieszer“ wenig: an der Tür des Umsonstladen steht geschrieben, wann der Laden geöffnet hat. Wenn Konzerte stattfinden, werden selbstgestaltete und kopierte Plakate im Viertel geklebt. Manchmal nicht mal das, dann reicht eine Erwähnung in einem lokalen Szene-Zine. Die „Gieszer“ ist trotzdem gut besucht.

Auch die Werkstätten brauchen so gut wie keine allgemeine Öffentlichkeitsarbeit. Wer sie nutzt (und das sind viele) kennt Leute, die schon vorher hier waren. Das Plenum ist der Ort, um Informationen zu bekommen, und gleichzeitig der Ort, wo Entscheidungen getroffen werden.

Teamentwicklung

Grundsatz der „Gieszer“: Alle entscheiden gemeinsam im Konsens.

Während es anfangs nur ein Plenum für alle Themen gab, das auch nicht selten mal bis tief in die Nacht dauerte, hat sich die Arbeitsorganisation ausdifferenziert. Jedes Teilprojekt hat seine eigene Struktur; ein gemeinsames Plenum findet monatlich statt. Der Vorstand hat real nicht viel mehr Entscheidungsmacht als andere und muss im „Alltagsgebrauch“ auch nicht mehr Durchblick haben als alle anderen.

Die „Gieszer“ ist ein Ort, wo man, wenn man jemanden kennt oder irgendwie zur Szene gehört, ganz viel machen kann. Das ermöglicht nichtformelle Organisationsstrukturen, beschränkt aber gleichzeitig den Zugang für Menschen, die diese Szenecodes nicht bedienen.

Immobilien/Planen/Bauen

In den 10 Jahren nach der Inbesitznahme baute eine Vielzahl von NutzerInnen an verschiedenen Stellen mit ganz unterschiedlichen Baustandards. So konnte sich einerseits an manchen Punkten (professionell ausgestatteter Veranstaltungsraum) eine enorme Energie entfalten, andere Stellen blieben provisorisch nutzbar gemacht, über ein Jahrzehnt einfach liegen. Das machte es möglich, das Gelände mit extrem wenig Geld zu entwickeln, ist aber auch der Grund für manche Baumängel bis heute.

Mit der Nutzungsuntersagung 2009 durch das Bauordnungsamt begann eine neue Phase des Bauens. Die Standards (insbesondere beim Brandschutz), die nun von außen eingefordert wurden, stellten die Gruppe vor große Herausforderungen. Aus diesem Grund war etwa der Veranstaltungsraum während der sehr langen Bauphase mit ihren vielen Pausen über beinahe 5 Jahre für öffentliche Veranstaltungen geschlossen. Versuche von Teilen der Gruppe, durch den Einsatz externer Firmen die Bauphase zu beschleunigen, konnten sich im DIY-Konsens nicht durchsetzen. Letztlich hat die Gruppe das auch so bewältigt.

Finanziert wurden die Baumaßnahmen ausschließlich selbst.

Nachbarschaft und Stadtteil

Die „Gieszer“ ist fester Bestandteil einer ganzen Reihe selbstverwalteter Strukturen (Hausprojekte, Wagenplatz) in der unmittelbaren Nachbarschaft. Mit diesen gibt es eine rege Verbindung. Damit steht die „Gieszer“ im Schnittpunkt ganz verschiedener Alternativszenen. Die langen Außenwände der „Gieszer“ sind etwa als legale Graffitifläche eine wichtige Verbindung zur Sprayer-Szene, die angesichts rivalisierender Sprayer-Gruppen nicht immer konfliktfrei ist.

Verbindung zur Nachbarschaft sind vor allem die Konzertveranstaltungen, das „Gieszerfest“ als jährlicher Höhepunkt und das sonntagnachmittägliche Familienprogramm im Lesecafé. Der Umsonstladen ist darüber hinaus szene-, alters- und sprachübergreifend ein wichtiger Begegnungsort in der Nachbarschaft.

Die „Gieszer“ und die umliegende Szene sind ein wichtiger Grund dafür, dass Plagwitz heute nicht mehr von Neonazis dominiert wird, sondern einen alternativen Ruf genießt.

Anlassbezogen bringen sich die Aktiven immer wieder in Stadtteilthemen ein und begleiten die Aufwertung des Viertels kritisch. Als im Rahmen der Weltausstellung „Expo 2000“ der Stadtteilpark eröffnet wurde, spielte auf dem Dach eines leer stehenden Hauses gegenüber eine Punkband mit Transparenten „gegen Expo und Gentrifizierung“.

Als später im selben Stadtteilpark ein mit öffentlichen Mitteln installierter Basketballkorb wieder abmontiert werden sollte, weil die frisch hinzugezogenen Eigenheimbesitzer wegen Lärms vor Gericht klagten, initiierte die Szene ein regelmäßiges Treffen am Basketballplatz mit Musik.

Stolpersteine

Ein derart konsequent nicht kommerzielles, selbstverwaltetes Projekt ist immer auch anstrengend. Der Versuch, das ganze Projekt im Blick zu behalten, etwa als ehrenamtlicher Vorstand, bringt schnell Frust mit sich. Hier beharrlich zu bleiben, ohne zu resignieren, ist eine Kunst, die gelernt werden kann: „Es ist wichtig, da zufrieden zu sein. Sich selbst was Gutes rauszusuchen“ sagen die „Gieszer“-Aktiven.

Nach der langen Duldungsphase, als sich die „Gieszer“ um einen Kauf bemühte, gab es in Teilen der Stadtverwaltung und Öffentlichkeit die Haltung „Mit Besetzern wird nicht verhandelt“. Tatsächlich war das Gelände der „Gieszer“ nie besetzt, wurde aber als solches wahrgenommen. Hier war es für die „Gieszer“ wichtig, aber auch nicht ganz leicht, sich nicht von dieser Konfrontationslogik einnehmen zu lassen und aus der gedanklichen Schublade herauszukommen, um schließlich selbstbewusst den Kaufpreis in einer Plastiktüte vorbeizubringen.

Die Betonung des „Selbermachens“ führt dazu, dass Baustellen auch mal jahrelang brachliegen, auch wenn eigentlich genug Geld dafür da wäre, sie professionell von Firmen erledigen zu lassen. Wer sich hier einbringt, braucht Zeit. Die informellen Strukturen beschränken den Zugang für Menschen, die die Szenecodes nicht bedienen oder nicht so viel Zeit mitbringen.

Wen oder welche Unterstützung brauchen wir noch?

Viel Konfrontation und Unverständnis (bei baulichen, aber auch behördlichen Fragen) hätte sich vermeiden lassen, wenn die „Gieszer“ in den Jahren offizielle Ansprechpartner gehabt hätte, die mit der Perspektive selbstverwalteter Projekte vertraut sind.

Auf der anderen Seite gab es auch immer wieder Versuche von Teilen der Stadtverwaltung, die „Gieszer“ zu fördern, etwa, sie als EXPO-Projekt vorzuschlagen. Das wurde in der „Gieszer“ als Vereinnahmungsversuch wahrgenommen. Die Stadtverwaltung muss lernen, mit Projekten auf Augenhöhe zu kommunizieren. Andersherum sagen einige der Aktiven heute: „Projekte müssen auch lernen, nicht jedes Gespräch mit einem Stadtratspolitiker bedeutet, dass man sich vereinnahmen lässt“.

Ähnliches wie für die Stadtpolitik gilt auch für externe Fachleute (Anwälte, Elektriker, Architekten), die oft vom DIY-Anspruch und den Organisationsstrukturen überfordert waren, und daher Ansätze vorschlugen, die in der „Gieszer“ gar nicht in der Form umsetzbar waren. Hier wären Fachleute mit Selbstverwaltungserfahrung hilfreich.

Links & Downloads

Autoren: Michael Stellmacher, Hannes Heise