Die „Gieszer“ im Leipziger Westen ist ein selbstverwaltetes „Zentrum zur Förderung emanzipatorischer Gesellschaftskritik und Lebensart“. Sie zeigt, was alles entstehen kann, wenn „Do it yourself“ und antikapitalistische Grundhaltung als Organisationsprinzipien ernst genommen werden. Metallwerkstatt und Umsonstladen, Punkkonzert und vieles mehr finden sich in diesem ehemaligen Industriegelände.
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Leicht ist es nicht, hier hoch zu klettern. Doch einmal oben angekommen, hat man vom stählernen Schiffsbug aus einen guten Ausblick über das Atoll der ehemaligen Industrielandschaft. Vor uns: ein Fahrradweg zwischen buntlackierten ein- bis zweistöckigen Backsteinbauten. Unter uns: Grüppchen von Sprayern, die unermüdlich auf die dicken Schichten von Lack neue Bilder aufbringen. Der Geruch von Lösungsmitteln zieht in die Nase – ein Hauch von Freiheit und Abenteuer, der etwas benommen macht. Im Rücken: die „Gieszer 16“, ein langgezogenes im Grundriss dreieckiges Gebäude, dessen Spitze der aus Stahlrohren geschweißte Bug ziert. Willkommen im „Bermudadreieck“, wie manche das Viertel liebevoll nennen.
Von der Inszenierung zum Nachbarschaftsprojekt
Die politische Wende machte im Industrieviertel Plagwitz im Leipziger Westen „Tabula rasa“. Mit einem Schlag schlossen die nunmehr unrentablen Fabriken der Schwerindustrie. Die Luft war wieder sauber, doch Arbeit gab es hier keine mehr. Langsam verfiel die Industrielandschaft mit ihren Fabriken und Gleisanlagen – eine riesige Herausforderung für Stadtplaner und zugleich ein unermesslicher Spielplatz für Abenteuerlustige. Manche derjenigen, die die Bauten durchforschten, wollten bleiben.
Nach einer Welle von Hausbesetzungen Anfang der 90er Jahre galt in Leipzig lange Zeit eine Null-Toleranz-Politik. Besetzte Häuser und Gelände wurden sofort geräumt. Verändert wurde diese „Leipziger Linie“ glücklicherweise durch einen Zusatz, der sich aus heutiger Sicht für eine Stadt, die damals von hohem Leerstand geprägt war, als sehr vernünftig erwies: „Verhandlungen werden angeboten, wenn Besetzergruppen ein tragfähiges Konzept vorlegen.“
Die jugendliche Gruppe, die sich Ende der 90er Jahre das Ziel setzte, hier im Stadtviertel eine Mischung aus Wohnraum, Kulturraum und sozialem Zentrum zu erschaffen, stellte sich auf ihre Weise darauf ein. Sie beschloss, mit einer Besetzung die nötige Aufmerksamkeit für Verhandlungen zu schaffen, diese aber als Kunstaktion zu inszenieren: mit Pflastersteinen aus Styropor und Filmteam. Tatsächlich kam es zu Gesprächen mit der Stadt. Die Gruppe fand das Gebäude der ehemaligen Farben- und Lackfabrik in der Gießerstraße 16, bald liebevoll „Gieszer“ genannt. Gemeinsam mit dem Liegenschaftsamt wurde ein 1-Jahres-Vertrag ausgehandelt. Die Gruppe durfte das Gelände vorläufig nutzen und bekam Zeit, ein Nutzungskonzept zu erarbeiten. Im April 1999 wurde die Gieszer eröffnet.
Im Sommer danach zogen die ersten Bewohner ein und nahmen die Hallen in Betrieb. Die Bedingungen waren dabei zunächst mehr als spartanisch: „Wir haben teilweise im Schlafsack auf dem Boden gelegen, 4 bis 5 Leute in einem Raum.“
Das Nutzungskonzept und die Umbaupläne, die die Gruppe mit einem Architekten und einem Ingenieur erstellt hatten, blieben jedoch in der Schublade liegen. Man überwarf sich mit dem Architekten, die Gespräche mit der Stadt schliefen ein, währenddessen wechselten die Aktiven im Projekt. Die zweite Generation der Nutzer baute dann einfach drauf los: Die vielen großen Räume machten Lust, direkt anzufangen. Ohne zahlreiche Provisorien wäre das kaum möglich gewesen, besteht die „Gieszer“ doch aus neun Gebäudeteilen mit 4.400 Quadratmetern Nutzfläche, die damals teilweise in sehr schlechtem Zustand ohne Wasser und Strom waren.
Schrottästhetik und Projektvielfalt
So entstand in den Räumen ein Projekt nach dem anderen. Da gibt es das Atelier, das sich vier Künstler teilen. Da ist der Sportraum, in dem täglich kleine Gruppen an Fitnessgeräten oder mit Boxhandschuhen trainieren. Da sind die drei Proberäume, aus denen mal Punkrock dröhnt, mal eine Gruppe Blechbläser zu hören ist. Und da ist die Metall-Werkstatt auf dem Hof, wo die großen Schrottinstallationen geschweißt werden, die dem Gelände eine post-apokalyptische Ästhetik verleihen.
Ganz hinten liegt eine riesige Halle, „Recycling-Hof“ genannt, der für die Umbauten des Hauses oder befreundeter Hausprojekte vom Türblatt über den Fliesenstapel bis zum Lampenschirm alle möglichen Materialien bereithält. Theater und Oper spendeten fast 200 alte Kostüme und machten so aus einer Halle eine Art selbstorganisierten Kostümverleih für experimentelles Theater. Hinzu kommt noch eine Elektronik- und Multimediawerkstatt.
Der Umsonstladen ist wohl das Projekt in der „Gieszer“, das den Anspruch alternativen Wirtschaftens am deutlichsten nach außen trägt. Seit 2005 können zweimal wöchentlich brauchbare Dinge gebracht und abgeholt werden. Ohne Tausch, ohne Gegenleistung, ohne Bedürftigkeitsnachweis. Hier treffen inmitten von Geschirr, Büchern und Babykleidung ganz verschiedene Menschen aufeinander.
Auch das Lesecafé ist eine wichtige Schnittstelle zur Nachbarschaft. Der schick sanierte Raum öffnet sonntags zu Kaffee und Kuchen. Vor allem Eltern mit ihren Kindern aus der Nachbarschaft nutzen das Angebot — sofern sie davon erfahren. Denn beworben wird auch das Lesecafé nicht. Gleich neben dem Eingang ist an den Außenwänden eine der größten legalen Graffitiwände der Stadt, die an Wochenenden ständig von gut einem Dutzend Sprayer genutzt wird. Und so stehen neben den Farbkünstlern interessierte Kinder und fachsimpeln über die Bilder.
Im Zentrum steht der Veranstaltungsbereich: Große Tanzflächen, günstige Getränke und vor allem der Freiraum, alles selbst gestalten zu können, machten die „Gieszer“ zum Anziehungspunkt. Dabei fanden ganz verschiedene Musikszenen zusammen. Birgit, die lange im Vorstand des Vereins war, fand Anfang der 00er Jahre die Mischung zwischen Punk und Techno interessant, als sie begann, sich hier zu engagieren. Auch Karo reizte gerade die Heterogenität der „Gieszer“. „Das waren nicht nur linke Leute mit ’nem bestimmten Musikgeschmack. Das war heterogen: Techno, zwischendurch mal Theaterabend, mal experimentelle Musik.“ Es ist ein Paradies des Do-it-yourself, das sich hier in den ehemaligen Industriebauten ausgebreitet hat. Manche der Projekte sind über die Jahre wieder eingeschlafen, weil sie niemand mehr weiterführen wollte, andere erfreuen sich trotz ständigen Wechsels in den Reihen der Aktiven einer dauernden Beliebtheit.
Eine Burg als Freiraum
Von der Straße betrachtet fällt zunächst die martialische Ästhetik auf: Die hohen Tore sind mit Stacheldraht gesichert und aus Fahrradresten geschweißte Gitter schützen die Fenster des Umsonstladens. Als ein alternatives Projekt im damals noch von Neonazis dominierten Plagwitz wussten sich die „Gieszer“ von Anfang an zu behaupten. Über das damalige Ausmaß der Bedrohung gibt es heute jedoch unterschiedliche Ansichten: „Naziangriffe gab es hier eigentlich nie, nur so Kleinkram“, erinnert sich ein Bewohner des Projekts. Wer genauer nachfragt, erfährt, dass in der Anfangszeit regelmäßig die Scheiben eingeschlagen wurden. Nach einem Brandanschlag auf dem Dachboden eines der Gebäude konnte das Feuer durch einen glücklichen Zufall gelöscht werden. Bei einem Anschlag auf einen Lkw des Projektes hatte man weniger Glück: Das Fahrzeug brannte vollständig aus. Das Fahrerhaus ziert heute als regensichere Sitzgelegenheit den angrenzenden Radweg.
Das politische Engagement war nie einheitlich organisiert, aber gerade darum selbstverständlich im Alltag präsent. Der „Gieszer-Chor“ tauchte auch mal frühmorgens vor dem lokalen NPD-Zentrum auf, um antifaschistische Partisanenlieder zu singen. Politische Statements der „Gieszer“ als Ganzes gibt es aber nicht: Das Projekt will Raum für verschiedene Ansätze bieten.
Selbstverwalten statt konsumieren
Das zentrale Koordinations- und Entscheidungsgremium ist das wöchentliche Nutzer-Plenum, zu dem alle Interessierten kommen können. Jeder, der einen Wunsch, ein Vorhaben oder ein Anliegen hat, kann zum „Nutzi“ kommen — unabhängig davon, ob er oder sie hier wohnt oder nicht, dort eine Werkstatt, ein Atelier oder einen Veranstaltungsraum bereits bespielt oder dies nur in Zukunft gerne würde. Bewohner-Gruppe, Sportraum-Gruppe und Lesecafé-Gruppe haben ihre eigene Plena und sind für die von ihnen genutzten Gebäudeteile zuständig. Das macht es sehr einfach, Nutzerin oder Nutzer der „Gieszer“ zu werden. Karo resümiert: „Du kannst mit diesem Konzept Leute begeistern, sich einzubringen, aber es ist ein enormer Aufwand, und es hat sehr viel Leute extrem schnell verbrannt.“ Wie bei jedem anderen Verein gibt es auch bei der „Gieszer“ einen Vorstand. Aber diese Funktion wirkt hier wie ein Fremdkörper. Bei großen Themen entscheidet die Mitgliederversammlung, die im Idealfall alle umfasst, die das Gelände der „Gieszer“ in irgendeiner Weise nutzen. Dabei wird gleichberechtigt und möglichst ohne Abstimmungen entschieden. Birgit: „Wir haben immer das Konsensprinzip angestrebt, mehr oder weniger erfolgreich. Das führt natürlich dazu, dass es auch mal sehr lange dauert.“
Immobilienwirtschaft nach Punkrock-Art
Die „Gieszer“ versucht, sich als „kulturelles Zentrum zur Förderung emanzipatorischer Gesellschaftskritik und Lebensart“ den kapitalistischen Rahmenbedingungen zu verweigern. Bezahlung ist deshalb immer ein politisches Thema. Fast alle Arbeiten — von der Dachsanierung bis zum Verlegen der Wasser- und Elektroleitungen — werden von den Nutzern selbst ausgeführt. Diese Mitarbeit ist freiwillig und unentgeltlich. Auch eine gewerbliche Nutzung der Räume soll es nicht geben. Im Alltag gibt es aber gelegentlich einen laxen Umgang mit diesem Prinzip: „Im Metalllabor werden schon Dinge geschweißt von Selbstständigen, die dafür Geld bekommen. Offiziell ist das geächtet.“ Vielleicht ist es gerade diese Mischung zwischen dem grundsätzlichen Anspruch, eine Alternative zum Kapitalismus aufzubauen und dem pragmatischen Umgang damit im Alltag, die den Charme der „Gieszer“ ausmacht.
Die Nutzung der Gebäude liegt quer zu jeder renditeorientierten Immobilienbewirtschaftung. Während selbst alternative Hausprojekte Miete quadratmeterweise abrechnen, liegen hier manche Räume jahrelang brach, bis jemand die Energie hat, sie auszubauen. Was heute als „Postwachstumsökonomie“ diskutiert wird, ist in der „Gieszer“ seit Beginn gelebter Alltag und Experimentierfeld — ohne wissenschaftlichen Beirat, dafür mit Punkästhetik. Wie jeder Raum, der außerhalb der Marktlogik existiert, müssen auch hier eigene Regeln des Miteinanders definiert werden. Im Umsonstladen kann jeder Kleidung, Elektrogeräte oder Haushaltswaren bringen oder mitnehmen, die Mitnahme ist aber auf drei Gegenstände begrenzt. Bei Konzerten muss zwar Eintritt bezahlt werden, als Rahmenbedingung gilt aber, dass Konzerte für alle bezahlbar sein sollen. Oft gibt es sogar das Angebot, im Rahmen einer gewissen Spanne über den Eintrittspreis selbst zu entscheiden, etwa 4 bis 6 Euro.
Um als Aktiver dabei zu sein, muss man keine formalen Kriterien erfüllen. Aber wer keinen Zugang zur Szene hat, wird auch nicht wissen, dass die „Gieszer“ theoretisch allen offen steht und mittwochsabends das „Nutzi“ stattfindet. Eine Kleiderordnung gibt es hier zwar nicht, aber wer im Jackett den Hof überquert, wird sicher schneller gefragt, was er hier wolle, als jemand in abgeschabter Lederjacke.
Die Aktiven der „Gieszer“ sind sich dieser Ambivalenz bewusst, und versuchen, mit ihren Möglichkeiten die Szenegrenzen zu überschreiten. Am besten gelingt dies wohl im Umsonstladen. Bei Sport-Raum, Proberäumen oder Recycling-Hof hingegen ermöglicht gerade die Nutzung durch eine überschaubare Szene ein generalisiertes Vertrauen, das halboffene Räume möglich macht. So nutzt die „Gieszer“ weder Werbezettel noch Facebook-Accounts. Die „Gieszer“ funktioniert trotz oder gerade wegen einer fehlenden PR-Arbeit.
Zum Besetzer gemacht
Über 10 Jahre konnte sich die Projektvielfalt in der Gieszer ungestört entwickeln. In dieser Zeit veränderte sich auch das Viertel ringsum. Viele der leerstehenden Fabriken wurden abgerissen und Wohnhäuser saniert. Die Gebäude der Gieszer waren vielfach nur provisorisch in Stand gesetzt worden. Nun regte sich der Wunsch, auch in die Infrastruktur des Projektes zu investieren: „Wir wollten einen richtigen Wasseranschluss. Im hinteren Bereich gab’s eigentlich nur Regenwassernutzung mit Eimern. Als wir bei der Stadt angerufen haben, hat die Frau vom Liegenschaftsamt gesagt: ’nein, ihr seid Besetzer, ihr kriegt keinen Wasseranschluss‘.“ Die „Gieszer“-Leute fielen aus allen Wolken. Sie hatten vollkommen vergessen, dass der Nutzungsvertrag nur für ein Jahr abgeschlossen worden war. Bei Teilen der Stadtverwaltung war nicht einmal bekannt, dass die Nutzung des Geländes überhaupt auf einem Vertrag beruhte. So begannen mühsame Kaufverhandlungen. Einige der Aktiven waren skeptisch, fürchteten, sich mit einem Kauf stärkerer Regulierung auszusetzen und dabei den experimentellen Charakter des Projekts zu verlieren. Die FDP-Fraktion witterte die Alimentierung gewaltbereiter Autonomer, forderte schließlich aber nur die Nachzahlung von Betriebskosten für die Zeit ohne gültigen Nutzungsvertrag.
Schließlich ließ sich die Gruppe auf die Bedingungen der Stadt ein, zahlte die ausstehenden Nebenkosten und unterschrieb einen Kaufvertrag. Das Geld hatte sie vorausschauend über die Jahre angespart: „Ich bin dann mit ‘ner Plastiktüte voller Geldscheine hin und habe gesagt: ‚ich muss mal die ,Gieszer‘ bezahlen‘“, erinnert sich eine der Giezer Aktiven.
Ausgerechnet während der Kaufverhandlungen schloss das Ordnungsamt eine Reihe kleiner, halblegaler Clubs in der Nachbarschaft, weil diese gegen Baubestimmungen verstießen. Auch die „Gieszer“ bot Anlass zur Beanstandung: Fehlende Brandschutztüren, mangelhafte Fluchtwege, keine behindertengerechte Ein- und Ausgänge, Hygienevorschriften und anderes boten genug Gründe, die „Gieszer“ erstmal als öffentlichen Veranstaltungsort dicht zu machen. Dass dies kurz nach dem Kauf passierte, verstärkte das Misstrauen gegenüber der Stadtverwaltung. „Für viele stellte sich die Situation so dar: ‚Dann kam der Kauf und dann war hier Stopp.‚“ Statt dass der Kauf des Geländes neuen Schwung in das Projekt brachte, lähmte das Verbot öffentlicher Veranstaltungen die Gruppe. Die Liste der notwendigen Sanierungsmaßnahmen war erdrückend lang: „Da war erstmal die Luft raus, damit wurde im Prinzip alles lahmgelegt. Das haben wir erst langsam begriffen, dass der Bauantrag nicht nur einen Raum, sondern das ganze Gelände betrifft.“
Sechs Jahre wurde seitdem gebaut — mal sporadisch, mal enthusiastisch. Immer wieder war im Gespräch, Firmen zu beauftragen, um Baustellen rasch abzuschließen. Das nötige Geld war in der Regel da, bis auf seltene Ausnahmen wurde die Beauftragung von Fachfirmen aber abgelehnt. Gegen Geld andere für sich arbeiten zu lassen, passte nach Ansicht vieler einfach nicht zum Geist der „Gieszer“. Inzwischen sind die Aktiven zuversichtlich, bald überall die Anforderungen der Behörden erfüllen zu können und damit wieder eine Freigabe für öffentliche Veranstaltungen zu erwirken. Die Schließung des Veranstaltungsraums hatte inzwischen auch eine gute Seite: Die Energie der Aktiven richtete sich so auf andere Vorhaben auf dem Gelände, beispielsweise den Umsonstladen, die Werkstätten und die Probe- und Sporträume.
Autonomie und Abgrenzung
Die Möglichkeit, öffentliche Fördermittel zu beantragen, wurde von der „Gieszer“ in der Regel ausgeschlagen. So lehnte die Gruppe beispielsweise ab, im Rahmen der Weltausstellung 2000 als dezentrales EXPO-Projekt geführt zu werden. Solche Vorschläge wurden als Vereinnahmungsversuche wahrgenommen.
Rückblickend scheint es, als hätten beide Seiten viel Mühsal vermeiden können, hätten sie sich intensiver um eine gute Kommunikation bemüht. Auf Seiten der Stadtverwaltung wäre eine feste Ansprechperson hilfreich gewesen, die Erfahrungen mit selbstverwalteten Gruppen hat und im Laufe der jahrelangen Verhandlungen verschiedener Behörden mit der „Gieszer“ den Überblick behält. Auf Seiten der „Gieszer“ hätten stets erreichbare Ansprechpersonen viel bewirken können. So ging in den Jahren der vertragsfreien Nutzung ein Schreiben bei der Gruppe ein, in dem von der Stadtverwaltung der Verkauf zum symbolischen Preis von einem Euro vorgeschlagen wurde. Aber diejenigen, die sich sonst für die Eigentumsfrage und den Schriftwechsel mit Behörden zuständig fühlten, waren zu dem Zeitpunkt vorübergehend nicht in der „Gieszer“ aktiv. Der Vorschlag blieb unbeantwortet, der Verkauf fand vorerst nicht statt. Als die Gruppe Jahre später im Verlauf der Kaufverhandlungen, in denen von einem Kaufpreis von einem Euro keine Rede mehr war, nach dem Schreiben als Argumentationsstütze suchte, blieb dieses unauffindbar. Gekauft wurde schließlich für eine Summe von 57.000 Euro.
Die Abgrenzung der „Gieszer“ nach außen wurde oft kritisiert. Sie geht jedoch mit einer weit reichenden Autonomie einher, die ein Grundprinzip authentisch transportiert: „Tu dich mit andern zusammen und mach einfach“. Für jene, die die Schwellen überwinden, ist die „Gieszer“ ein Ort mit enormen Möglichkeiten. Konflikte sind dabei unvermeidlich, aber der Grundkonsens und die in Jahren eingeübte konsensorientierte Gesprächskultur waren die Grundlage zu deren Lösung. Geholfen hat der „Gieszer“ auch ihre Einbettung in eine Nachbarschaft. So ist die „Gieszer“ zwar etwas wie eine Insel – aber in einem Archipel alternativer Projekte in der Nachbarschaft.
Text: Michael Stellmacher, Hannes Heise
Projekt
Selbstverwaltetes Kultur- und Wohnprojekt, soziales Zentrum, Schwerpunkt alternative Szene;
unter anderem:
- Konzert/Veranstaltungsräume (z. Z. im Bau)
- Umsonstladen
- Bandprobenräume
- Werkstätten
- Sporträume
Gebäudetyp/Nutzflächen
Ehemaliges Industriegebäude der Gründerzeit, verschiedene ein- bis dreistöckige Backstein-/Klinkerbauten um einen langgezogenen Innenhof; teilweise Denkmalschutz.
Geländegröße: 2.835 qm
Nutzfläche: 4.400 qm
Wohnfläche: 750 qm
teilöffentliche Projektfläche: 800 qm
öffentliche Nutzfläche: 2.900 qm
Umsonstladen: 100 qm
Veranstaltungsfläche: 290 qm
Projektstatus
Verstetigungsphase
Das Besondere – Erfolgsbausteine
Der entspannte Umgang mit dem Gelände wurde durch den niedrigschwelligen Zugang (Nutzungsvertrag, der de facto 10 Jahre lief) zum Gebäude ermöglicht. Über diese Zeit konnte sich die ganz eigene Kultur der Selbstorganisation entwickeln. Wichtig war zugleich, dass die Gruppe danach, trotz nichtkapitalistischer Grundsätze, den Kauf des Gebäudes wagte.
Einzigartig ist wohl das riesige Gelände, dessen Bauzustand von „teilsaniert“ bis „Baustelle“ reicht. Die Vielfalt der Projekte wird durch die Vielfalt der Gebäude (auch mit unterschiedlichen Zugängen) erleichtert.
Die „Gieszer“ hat eine enorme Projektvielfalt, die auf dem einfachen Grundkonsens „emanzipatorischer Gesellschaftskritik und -Lebensart“ beruht. Wie dieser im Detail ausgefüllt wird, obliegt im Alltag den NutzerInnen selbst. So entstand eine Mischung von Angeboten, die nur einer kleinen Szene zugänglich sind und Angeboten, die von ganz verschiedenen Bevölkerungsgruppen angenommen werden.
Die Kombination von Autonomie und Offenheit ist wichtig: Nach außen hin hat sich die „Gieszer“ oft von „offiziellen“ Strukturen abgegrenzt, etwa indem sie Fördermittel ablehnte oder auch indem sie jede Form „professioneller“ Öffentlichkeitsarbeit einfach verweigert.
Gleichzeitig stehen die Strukturen allen Interessierten offen. In wichtigen Fragen entscheidet das Plenum, das allen NutzerInnen gleichermaßen offen steht. Die „Gieszer“ lehnt Hierarchien ab; notwendige Positionen wie Vereinsvorstand werden als Fremdkörper empfunden.
Die „Gieszer“ wird komplett ehrenamtlich betrieben und war trotzdem oder gerade deshalb bisher finanziell immer gut im Plus.
Chronologie
Am Anfang
Am Anfang stand die Idee einer jugendlichen Gruppe Ende der 90er Jahre im Leerstand ein Kulturzentrum zu schaffen. Eine künstlerische Hausbesetzung und andere theatralische Aktionen (u.a. eine „Häuserhochzeit“) schafften den Rahmen für Verhandlungen um ein städtisches Gebäude.
1999 eröffnet die „Gieszer“, zunächst mit einjährigem Nutzungsvertrag.
Der Nutzungsvertrag wurde von beiden Seiten stillschweigend verlängert, bzw. wurde wohl einfach eine Verlängerung vergessen. Über die Jahre entwickelte sich eine Vielfalt an Projekten, Veranstaltungen, Werkstätten. Das Gelände wird je nach Prioritäten der jeweils Aktiven ausgebaut und umgenutzt.
2005 eröffnet der Umsonstladen.
Aufbau
2009 markiert ein wichtiges Jahr: beim Versuch, einen Wasseranschluss zu bekommen, fällt einigen Aktiven auf, dass der Nutzungsvertrag seit Jahren ausgelaufen war. Die Gieszer beginnt Kaufverhandlungen, um ausbauen zu können. Zeitgleich untersagt das Ordnungsamt zahlreichen halblegalen Veranstaltungsräumen im Stadtviertel die Nutzung. So kam mit dem Kauf der Veranstaltungsstopp auch für die Gieszer, u.a. wegen fehlendem Brand- und Schallschutz. Wohnprojekt und Werkstätten liefen weiter.
Verstetigung
2009 bis 2016 konzentrierte sich das Projekt auf die übrigen Räume. Der Ausbau der Veranstaltungsräume, um hier auch wieder offiziell Konzerte organisieren zu können, lief niedrigschwellig.
Auf lange Sicht
Auch weiterhin wird der Erhalt und Ausbau der Gebäude entlang der Nutzerinteressen im Vordergrund stehen. Die Gieszer wird nie ganz fertig sein.
Finanzierung
Grundsätzlich finanziert sich die „Gieszer“ selbst: Alle die hier mitmachen, tragen dazu bei, die Kosten zu stemmen. Feste Nutzungsentgelte gibt es nicht, dafür Spenden.
Die Teilbereiche finanzieren ihre Ausstattung gemeinsam selbst; als Grundkosten fallen im Wesentlichen die Betriebskosten an.
Die „Gieszer“ hat (für ein Do it yourself-Projekt dieser Größenordnung ungewöhnlich) nie ernsthaft Geldprobleme gehabt. Den Kaufpreis in Höhe von 57.000 Euro bezahlte die Gruppe bar mit den Überschüssen der Veranstaltungen der Vorjahre. Fördermittel werden auch aus Sorge vor Abhängigkeit abgelehnt. So weigerte sich die „Gieszer“ sich zum Vorzeigeprojekt der Weltausstellung „Expo 2000“ machen zu lassen, aus Sorge, hier vereinnahmt zu werden.
Für einzelne Projekte wurden aber Fördermittel beantragt: So wurde die Installation des stählernen „Schiffbugs“ 2001 mit EU-Fördermittel finanziert.
Organisationsform
Träger des gesamten Projekts und Eigentümer des Geländes ist der gemeinnützige „Verein für Stadtteilförderung, Wohn- und Kultur e. V.“ Die Rechtsform wurde vor allem gewählt, weil sie zum ideellen Zweck passte und den Aktiven vertraut war. Ideal der „Gieszer“ ist es, dass alle NutzerInnen des Geländes sich als Teil des Vereins verstehen. Eine Unterstrukturierung mit weiteren Untervereinen gibt es nicht.
Im Alltag ist es vor allem das Nutzerplenum, wo die Aktivitäten auf dem Gelände koordiniert werden sowie eine Vielzahl einzelner Plena für die verschiedenen Bereiche. Die Plena sind es, die im Alltagsbewusstsein der „Gieszer“ eine Rolle spielen, nicht der Verein.
Vorteil dieser Konstruktion ist die einfache Handhabung der Projektvielfalt – alles gehört rechtlich zum Verein. Es hat keine umständlichen bürokratischen Unterstrukturen.
Nachteil: Mehrfach verlor der Verein kurzzeitig die Gemeinnützigkeit, weil in der Gemengelage selbstorganisierter Projekte der ehrenamtliche Vereinsvorstand bestimmte Aufgaben aus dem Blick verlor. Zudem gibt es Aufgaben, die niemand gern übernimmt – Ämterkontakte allgemein, Steuererklärung etc.
Kommunikation
Die „Gieszer“ betreibt keine Öffentlichkeitsarbeit im üblichen Sinne: Die Website ist seit Jahren veraltet. Das macht aber im Alltag der „Gieszer“ wenig: an der Tür des Umsonstladen steht geschrieben, wann der Laden geöffnet hat. Wenn Konzerte stattfinden, werden selbstgestaltete und kopierte Plakate im Viertel geklebt. Manchmal nicht mal das, dann reicht eine Erwähnung in einem lokalen Szene-Zine. Die „Gieszer“ ist trotzdem gut besucht.
Auch die Werkstätten brauchen so gut wie keine allgemeine Öffentlichkeitsarbeit. Wer sie nutzt (und das sind viele) kennt Leute, die schon vorher hier waren. Das Plenum ist der Ort, um Informationen zu bekommen, und gleichzeitig der Ort, wo Entscheidungen getroffen werden.
Teamentwicklung
Grundsatz der „Gieszer“: Alle entscheiden gemeinsam im Konsens.
Während es anfangs nur ein Plenum für alle Themen gab, das auch nicht selten mal bis tief in die Nacht dauerte, hat sich die Arbeitsorganisation ausdifferenziert. Jedes Teilprojekt hat seine eigene Struktur; ein gemeinsames Plenum findet monatlich statt. Der Vorstand hat real nicht viel mehr Entscheidungsmacht als andere und muss im „Alltagsgebrauch“ auch nicht mehr Durchblick haben als alle anderen.
Die „Gieszer“ ist ein Ort, wo man, wenn man jemanden kennt oder irgendwie zur Szene gehört, ganz viel machen kann. Das ermöglicht nichtformelle Organisationsstrukturen, beschränkt aber gleichzeitig den Zugang für Menschen, die diese Szenecodes nicht bedienen.
Immobilien/Planen/Bauen
In den 10 Jahren nach der Inbesitznahme baute eine Vielzahl von NutzerInnen an verschiedenen Stellen mit ganz unterschiedlichen Baustandards. So konnte sich einerseits an manchen Punkten (professionell ausgestatteter Veranstaltungsraum) eine enorme Energie entfalten, andere Stellen blieben provisorisch nutzbar gemacht, über ein Jahrzehnt einfach liegen. Das machte es möglich, das Gelände mit extrem wenig Geld zu entwickeln, ist aber auch der Grund für manche Baumängel bis heute.
Mit der Nutzungsuntersagung 2009 durch das Bauordnungsamt begann eine neue Phase des Bauens. Die Standards (insbesondere beim Brandschutz), die nun von außen eingefordert wurden, stellten die Gruppe vor große Herausforderungen. Aus diesem Grund war etwa der Veranstaltungsraum während der sehr langen Bauphase mit ihren vielen Pausen über beinahe 5 Jahre für öffentliche Veranstaltungen geschlossen. Versuche von Teilen der Gruppe, durch den Einsatz externer Firmen die Bauphase zu beschleunigen, konnten sich im DIY-Konsens nicht durchsetzen. Letztlich hat die Gruppe das auch so bewältigt.
Finanziert wurden die Baumaßnahmen ausschließlich selbst.
Nachbarschaft und Stadtteil
Die „Gieszer“ ist fester Bestandteil einer ganzen Reihe selbstverwalteter Strukturen (Hausprojekte, Wagenplatz) in der unmittelbaren Nachbarschaft. Mit diesen gibt es eine rege Verbindung. Damit steht die „Gieszer“ im Schnittpunkt ganz verschiedener Alternativszenen. Die langen Außenwände der „Gieszer“ sind etwa als legale Graffitifläche eine wichtige Verbindung zur Sprayer-Szene, die angesichts rivalisierender Sprayer-Gruppen nicht immer konfliktfrei ist.
Verbindung zur Nachbarschaft sind vor allem die Konzertveranstaltungen, das „Gieszerfest“ als jährlicher Höhepunkt und das sonntagnachmittägliche Familienprogramm im Lesecafé. Der Umsonstladen ist darüber hinaus szene-, alters- und sprachübergreifend ein wichtiger Begegnungsort in der Nachbarschaft.
Die „Gieszer“ und die umliegende Szene sind ein wichtiger Grund dafür, dass Plagwitz heute nicht mehr von Neonazis dominiert wird, sondern einen alternativen Ruf genießt.
Anlassbezogen bringen sich die Aktiven immer wieder in Stadtteilthemen ein und begleiten die Aufwertung des Viertels kritisch. Als im Rahmen der Weltausstellung „Expo 2000“ der Stadtteilpark eröffnet wurde, spielte auf dem Dach eines leer stehenden Hauses gegenüber eine Punkband mit Transparenten „gegen Expo und Gentrifizierung“.
Als später im selben Stadtteilpark ein mit öffentlichen Mitteln installierter Basketballkorb wieder abmontiert werden sollte, weil die frisch hinzugezogenen Eigenheimbesitzer wegen Lärms vor Gericht klagten, initiierte die Szene ein regelmäßiges Treffen am Basketballplatz mit Musik.
Stolpersteine
Ein derart konsequent nicht kommerzielles, selbstverwaltetes Projekt ist immer auch anstrengend. Der Versuch, das ganze Projekt im Blick zu behalten, etwa als ehrenamtlicher Vorstand, bringt schnell Frust mit sich. Hier beharrlich zu bleiben, ohne zu resignieren, ist eine Kunst, die gelernt werden kann: „Es ist wichtig, da zufrieden zu sein. Sich selbst was Gutes rauszusuchen“ sagen die „Gieszer“-Aktiven.
Nach der langen Duldungsphase, als sich die „Gieszer“ um einen Kauf bemühte, gab es in Teilen der Stadtverwaltung und Öffentlichkeit die Haltung „Mit Besetzern wird nicht verhandelt“. Tatsächlich war das Gelände der „Gieszer“ nie besetzt, wurde aber als solches wahrgenommen. Hier war es für die „Gieszer“ wichtig, aber auch nicht ganz leicht, sich nicht von dieser Konfrontationslogik einnehmen zu lassen und aus der gedanklichen Schublade herauszukommen, um schließlich selbstbewusst den Kaufpreis in einer Plastiktüte vorbeizubringen.
Die Betonung des „Selbermachens“ führt dazu, dass Baustellen auch mal jahrelang brachliegen, auch wenn eigentlich genug Geld dafür da wäre, sie professionell von Firmen erledigen zu lassen. Wer sich hier einbringt, braucht Zeit. Die informellen Strukturen beschränken den Zugang für Menschen, die die Szenecodes nicht bedienen oder nicht so viel Zeit mitbringen.
Wen oder welche Unterstützung brauchen wir noch?
Viel Konfrontation und Unverständnis (bei baulichen, aber auch behördlichen Fragen) hätte sich vermeiden lassen, wenn die „Gieszer“ in den Jahren offizielle Ansprechpartner gehabt hätte, die mit der Perspektive selbstverwalteter Projekte vertraut sind.
Auf der anderen Seite gab es auch immer wieder Versuche von Teilen der Stadtverwaltung, die „Gieszer“ zu fördern, etwa, sie als EXPO-Projekt vorzuschlagen. Das wurde in der „Gieszer“ als Vereinnahmungsversuch wahrgenommen. Die Stadtverwaltung muss lernen, mit Projekten auf Augenhöhe zu kommunizieren. Andersherum sagen einige der Aktiven heute: „Projekte müssen auch lernen, nicht jedes Gespräch mit einem Stadtratspolitiker bedeutet, dass man sich vereinnahmen lässt“.
Ähnliches wie für die Stadtpolitik gilt auch für externe Fachleute (Anwälte, Elektriker, Architekten), die oft vom DIY-Anspruch und den Organisationsstrukturen überfordert waren, und daher Ansätze vorschlugen, die in der „Gieszer“ gar nicht in der Form umsetzbar waren. Hier wären Fachleute mit Selbstverwaltungserfahrung hilfreich.
Links & Downloads
- Internetseite der G16
- „Leben, Lieben, Lachen, Selbermachen. Zur Frage der Selbstorganisierung des Projekts Gieszerstraße 16“ in „Feierabend! libertäres 11⁄2 Monatsheft aus Leipzig “, Nr. 20 November/Dezember 2005, S. 14-15
- Von Besetzern zu Besitzern. Kauf der Gieszer 16 wieder mal gescheitert, in „Feierabend! libertäres 11⁄2 Monatsheft aus Leipzig “, Nr. 34, Seite 9
- G16, was nu?, in „Feierabend! libertäres 11⁄2 Monatsheft aus Leipzig “, Nr. 35, abrufbar unter:
- Film Auftritt Brassbanditen im Hof Giezer 16
Autoren: Michael Stellmacher, Hannes Heise