Ein Beitrag von Larisa Tsvetkova.
Dieser Text erschien zuerst Januar 2023 in der Común #7. Die gesamte Ausgabe ist hier digital abrufbar.
Im Kontext der steigenden Baukosten und Zinsen, der Lieferkettenprobleme und des Ressourcenmangels warnt die Immobilienbranche vor einem „Neubaueinbruch“ und verfehlten „Bauzielen“. Gleichzeitig versprechen Politik und Bauwirtschaft Jahr für Jahr eine Entlastung des Wohnungsmarktes durch „Bauziele“ und halten ihr Versprechen nicht: Zahlreiche Neubauten sind entstanden, die entlastende Wirkung lässt allerdings auf sich warten. Doch ist eine neubauzentrierte Politik überhaupt noch zeitgemäß? Die zunehmende Kommerzialisierung der Städte und der Klimanotstand verlangen einen Umgang mit Grund und Boden als begrenztem Gut und mit baulichem Bestand als Speicher der grauen Energie.
Abseits von Bauzielen und Spekulationsinteressen wurden in den vergangenen Jahren bundesweit vielfältige Wohnprojekte realisiert. Wo sich eine Entwicklung für Investor:innen nicht lohnt, gestalten gemeinschaftliche Initiativen ihre Wohn-, Arbeits- und Gemeinschaftsräume zur Selbstnutzung und schaffen einen Mehrwert für ihre Nachbarschaften. Da Wohnprojekte anders als Investor:innen agieren, brauchen sie allerdings auch andere Rahmenbedingungen. Immer mehr Städte unterstützen Wohnprojekte, um ihre stadtpolitischen Ziele zu erreichen. Die prominentesten Beispiele sind Hamburg, Tübingen, Frankfurt am Main, München und auch Leipzig. Im bundesweiten Vergleich verfügt Leipzig über einen besonderen Erfahrungsschatz mit Schwerpunkt auf Bauen im Bestand: Die Kooperation der Leipziger Wohnprojekte-Szene mit der Stadt zeigt eindrucksvoll, welche Wirkung die zivilgesellschaftlichen Initiativen mithilfe kommunaler Instrumente erzeugen können.
TRADITION DER SELBSTORGANISATION IM BESTAND
Die Leipziger Wohnprojekte-Szene wurzelt in Hausbesetzungen der 1990er Jahre, die im Kontext enormer Leerstände und dem Bevölkerungsrückgang um rund ein Fünftel entstanden sind (vgl. Wendt 2018, S. 155, 168ff). Der Leipziger Bewegung gelang dabei eine frühzeitige Kooperation mit städtischer Seite: So erinnert die Webseite der »Alternativen Wohngenossenschaft Connewitz« an die überraschend erfolgreichen Verhandlungen der »Connewitzer Alternative e.V.« mit der kommunalen »Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft«, die Anfang 1990er Jahre zum Abrissstopp von mehreren Häusern und ihrer Sicherung durch Nutzungsrechte, Erbbaurechtsverträge und Förderprogramme führten.
Die günstigen Immobilienpreise, eine dialogbereite Kommune und der kreative Umgang mit massiven Leerständen bildeten in den 1990er bis 2000er Jahren einen fruchtbaren Boden für vielfältige selbstorganisierte Strukturen, wie beispielsweise die Vereine »HausHalten«, »Haus- und WagenRat« und »Selbstnutzer Leipzig« sowie die »Alternative Wohngenossenschaft Connewitz«. Diese und weitere Initiativen entwickelten Beratungsangebote und gaben ihre Erfahrungen ehrenamtlich weiter. Zwischen 2001 und 2016 wurden so rund 150 Wohnprojekte in Leipzig in Bestandshäusern realisiert, darunter Altbausanierungen im Gemeinschaftseigentum und in Eigentümergemeinschaften sowie in Mieter:innenprojekten mit dem »AusbauHaus-Modell« in Kooperation mit Hauseigentümer:innen (vgl. Gerhardt / Schaaf 2017, S. 23).
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SPÄTESTENS ALS DIE „AUSBAUHÄUSER“ UND „WÄCHTERHÄUSER“ BUNDESWEIT SCHLAGZEILEN MACHTEN, STAND LEIPZIG NICHT MEHR FÜR SCHRUMPFUNG UND LEERSTAND, SONDERN FÜR KREATIVITÄT UND MÖGLICHKEITSRÄUME – DIE SOGENANNTE „LEIPZIGER FREIHEIT“.
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WOHNUNGSPOLITISCHES KONZEPT ALS GRUNDLAGE
Spätestens als die „Ausbauhäuser“ und „Wächterhäuser“ bundesweit Schlagzeilen machten, stand Leipzig nicht mehr für Schrumpfung und Leerstand, sondern für Kreativität und Möglichkeitsräume – die sogenannte „Leipziger Freiheit“. Gleichzeitig erschwerten sich die Rahmenbedingungen für Wohnprojekte im Laufe der Zeit: Mit zunehmendem Zuzug und schrumpfenden Leerständen nahm die Steigerung der Immobilien- und Mietpreise in den 2010er Jahren Fahrt auf, so dass Wohnprojekte erstmalig mit wachsendem Marktdruck und Konkurrenzsituationen konfrontiert wurden (vgl. Wendt 2018, S. 163f).
Vor dem Hintergrund der städtebaulichen und demographischen Veränderungen der 2010er Jahre nahm die Stadt Leipzig eine Bearbeitung ihrer wohnungspolitischen Ziele vor und wurde dabei durch kritische Beiträge der Wohnprojekte-Szene begleitet. Die Verabschiedung eines wohnungspolitischen Konzepts 2015 schaffte die Grundlage für die Förderung von Beratungsangeboten, die Etablierung der Konzeptvergabeverfahren in Verbindung mit Erbbaurecht sowie die Entstehung des »Netzwerks Leipziger Freiheit« mit einer kommunal finanzierten Koordinierungsstelle. Die Koordinierungsstelle erhielt den Auftrag, die Erfahrungen und Kompetenzen der vielfältigen Akteur:innen der Wohnprojekte-Szene zu bündeln und sie mithilfe kommunaler Förderung für die verschiedenen Projektgruppen und Neugründungen zugänglich zu machen.
KOORDINIERUNGSSTELLE UND KONZEPTVERGABEVERFAHREN
Nach der Gründung der Koordinierungsstelle unter Trägerschaft des Leipziger Planungsbüros »|u|m|s| STADTSTRATEGIEN« wurde das »Netzwerk Leipziger Freiheit« etabliert und ausgebaut: Es entstand ein informeller Kreis verschiedener Netzwerkpartner*innen, deren gemeinsame Aktivitäten durch die Koordinierungsstelle organisatorisch unterstützt wurden und werden. Die Zielgruppe des Netzwerks umfasst unterschiedliche Wohnformen – von Projekten des Mietshäuser Syndikats und selbstverwalteten Mietshäusern über Genossenschaften bis zu Eigentümer:innengemeinschaften. Zu den Netzwerkpartner:innen gehören selbstorganisierte Vereine und Genossenschaften, das Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung sowie Träger der Eigentümerberatungen und des Quartiers- und Stadtumbaumanagements. Die Themen und Aufgaben der Koordinierungsstelle sind breit: Sie agiert als Anlaufstelle für vielfältige Akteur:innen, als Bindeglied zwischen Netzwerkpartner*innen sowie als Vermittlerin zwischen Wohnprojekten, Verwaltung, Politik, Öffentlichkeit und Wirtschaft.
Außerdem begleitet die Koordinierungsstelle die Vergabe der städtischen Grundstücke und Immobilien an Wohnprojekte im Konzeptverfahren, das sich in Leipzig als ein kommunales Instrument zur Unterstützung der Wohnprojekte etabliert hat. Die Koordinierungsstelle hat die Entwicklung des Instruments begleitet und auf der Webseite des »Netzwerks Leipziger Freiheit« dokumentiert. Die Pilotverfahren für einzelne Grundstücke führte die Stadt in Kooperation mit der städtischen Gesellschaft LESG und dem kommunalen Wohnungsunternehmen (LWB) durch. Aufbauend auf den Erfahrungen der ersten Verfahren schrieben 2021 und 2022 die Stadt Leipzig und die LWB mehrere Baulücken und Bestandsimmobilien zur Konzeptvergabe in Erbbaurecht aus.
BERATUNGSANGEBOTE FÜR VERSCHIEDENE PROJEKTPHASEN
Die verschiedenen Beratungsangebote reichen vom unverbindlichen Austausch bis zur fachlichen Unterstützung der Umsetzung: Projektgründer:innen und -interessierte können sich bei der monatlichen offenen Projektberatung zu allgemeinen Themen und laufenden Verfahren informieren. Während der Phasen der Ideenfindung, Planung und Umsetzung bietet das Netzwerk Wohnprojekten drei weitere Beratungsangebote an. So erhalten Gruppen in der Findungsphase eine „Orientierungsberatung“ bei der Koordinierungsstelle und werden danach an die passenden Berater:innen vermittelt. Je nach Projekttyp und Rechtsform finden die Gruppen passende Expert:innen aus dem Berater:innenpool für die kostenlose, kommunalfinanzierte „Konzeptberatung“. Im Umsetzungsprozess können Wohnprojekte nach Bedarf eine „Fachberatung“ bei erfahrenen Netzwerkparter:innen erhalten.
EIN DACH FÜR MIETER:INNEN, DIE BLEIBEN
Die „Konzeptberatung“ richtet sich nicht nur an neugegründete Wohnprojektgruppen, sondern auch an Mieter:innen, die ihr Haus in Selbstverwaltung übernehmen möchten. Dabei können Mieter:innengemeinschaften unter dem Dach der »SoWo Leipzig eG« (Solidarische Wohngenossenschaft) eine unterstützende Trägerstruktur finden. In ihren Jahresrundbriefen erzählt die Dachgenossenschaft eine beeindruckende Geschichte von der Gründung 2017, der Übernahme der ersten Häuser 2018 und den vielen Anfragen der Mieter:innengemeinschaften in den Folgejahren: Eine besondere Leistung der »SoWo« sind die komplexen Verhandlungen, die nicht selten mitten im Entmietungsprozess beginnen und zwei verschiedene Welten an einem Tisch zusammenbringen. Gegenüber den profitorientierten Unternehmen und ihren Markler*innen tritt die »SoWo« als eine solidarische und basisdemokratische Struktur auf. Ihr Gegenentwurf zur Entmietung und zum Verkauf zum Höchstpreis ist die Übernahme der Häuser in Selbstverwaltung auf Basis einer Kostenmiete, finanziell getragen durch Anteile der Mitglieder, private Nachrangdarlehen und Bankkredite. Bislang sind sieben Hausprojekte unter dem Dach der SoWo organisiert.
LERNEFFEKTE AUS LEIPZIG
Am Beispiel der Leipziger Wohnprojekte werden Potentiale der nicht-spekulativen Immobilienentwicklung im Bestand sichtbar. Die Vielfalt der Projekte und Rechtsformen reicht vom basisdemokratischen Gemeinschaftseigentum über genossenschaftliche Projekte bis zu Selbstnutzerhäusern im individuellen Eigentum. Diese Vielfalt an Wohnprojekten verändert nicht nur den Immobilienbestand und seine Eigentumsstrukturen. Sie nimmt auch Einfluss auf die stadtpolitischen Strategien, indem sie Positionen formuliert und eigene Alternativen zur spekulativen Immobilienentwicklung in der Praxis aufzeigt. So führen die Leipziger Wohnprojekte vor Augen, dass Bestandsentwicklung viel mehr sein kann als Abriss, Luxussanierung oder Verkauf und dass eine gemeinwohlorientierte Transformation von bestehenden Immobilien möglich ist.
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Über die Autorin
Larisa Tsvetkova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Städtebau und Entwurfsmethodik der TU Braunschweig und Vorstandsmitglied beim »Netzwerk Immovielien«. Am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt der TU Braunschweig promoviert sie zum Thema Kooperationen zwischen Kommunen und selbstorganisierten Wohnprojekten anhand der Fallbeispiele Tübingen, Hamburg und Leipzig.
WEITERLESEN
LaFond, Michael / Tsvetkova, Larisa / id22: Institut für Kreative Nachhaltigkeit (Hrsg.) (2017): CoHousing Inclusive: selbstorganisiertes, gemeinschaftliches Wohnen für alle. Berlin: Jovis Verlag. E-Book.
mitbauzentrale münchen, Netzwerk Leipziger Freiheit und Netzwerk Frankfurt für gemeinschaftliches Wohnen e.V. (Hrsg.) (2021): 4. Bundesweiter Austausch Konzeptverfahren.
Dokumentation (PDF, 4 MB)
Netzwerk Immovielien e.V. (Hrsg.) (2022): Immovielien-Heft 2. Strukturen und Prozesse für mehr Gemeinwohl
Stadt Leipzig, Der Oberbürgermeister, Dezernat Stadtentwicklung und Bau (Hrsg.) (2019): Netzwerk Leipziger Freiheit. Initiative für kooperatives und bezahlbares Bauen und Wohnen in Leipzig
Vereinigung für Stadt-, Regional-. und Landesplanung (SRL) e.V. (Hrsg.) (2022): Die andere Immobilie – Raumnutzungen für zivilgesellschaftliche Stadtprojekte. Planerin Heft 1_22.
MATERIALIEN
Gerhardt, Jens / Schaaf, Jan (2017): Das Netzwerk Leipziger Freiheit. In: Bezahlbares Wohnen. Leitbilder, Trägermodelle, Förderinstrumente, hg. von Vereinigung für Stadt-, Regional-. und Landesplanung (SRL) e.V., 23–26. Planerin Heft 1/17.
urban management systems GmbH und Stadt Leipzig: Netzwerk Leipziger Freiheit – Initiative für kooperatives und bezahlbares Wohnen der Stadt Leipzig.
Wendt, Matthias (2018): „Weil es nur zusammen geht“: Commons-basierte Selbstorganisation in der Leipziger Hausprojekteszene. Interdisziplinäre Stadtforschung Band 23. Frankfurt: Campus Verlag